Erwachsene können nichts neues mehr über Sexualität und den menschlichen Körper lernen – richtig? Meine Arbeit als Sexualpädagogin beweist mir häufig das Gegenteil. Ich merke immer wieder, wie viele Fragen es auch bei Erwachsenen rund um Sexualität und Körper gibt.
Dennoch ist es ein großes Tabuthema, als erwachsene Person Fragen zu Sexualität stellen und eben nicht alles zu wissen. Auch wenn wir ohnehin nie alles wissen können…
Ich fände es also unfair, wenn ich mit meinen Buchrezensionen ende, nur weil ich die Bücher für Kinder und Jugendliche so weit mal fertig gestellt habe. Ganz fertig kann ich aber sowieso nie sein, weil ja immer wieder neue Bücher erscheinen, die ich genau unter die Lupe nehmen möchte.
Da ich davon überzeugt bin, dass jeder Mensch unabhängig von Alter und Geschlecht etwas Neues im Bereich der Sexuellen Bildung lernen kann, stelle ich Aufklärungsbücher für Erwachsene vor.
Natürlich sind mir auch bei Büchern für Erwachsene mehrere Punkte wichtig:
- Sensible Begriffswahl: Es sollen passende Begriffe verwendet werden. Die Scheide ist zum Beispiel kein Schlauch, Schamlippen sollten lieber Vulvalippen oder so ähnlich genannt werden und der Penis wird nicht in die Scheide gesteckt. Nur so als ein paar Beispiele…
- Mehr als nur binär: Es gibt mehr als zwei Geschlechter und das sollte in Aufklärungsbüchern berücksichtigt werden.
- Keine Heteronormativität: Heterosexualität soll nicht als das „Normale“ oder gar Einzige präsentiert werden, sondern es soll gezeigt werden, dass es verschiedenste Formen der sexuellen Orientierungen gibt.
- Diversität: Wenn Illustrationen vorkommen, sollen diese nicht nur weiße, blonde Menschen zeigen, sondern diverse Haar- und Hautfarben, Körperformen, „Behinderungen“ etc. aufweisen.
Wie bereits bei den Büchern für Kinder und Jugendliche erwähnt, würden fast keine Bücher übrig bleiben, müssten die Bücher ALLE meine Kategorien erfüllen. Deshalb finden Sie hier auch Bücher, die nicht unbedingt bei all diesen Kategorien optimal sind, sie aber großteils erfüllen.
Make More Love.
Den Anfang macht das Buch einer sehr bekannten Sexualberaterin in Deutschland, nämlich Henning, Ann-Marlene, Keiser, Anika: Make More Love.*. Dieses Buch ist die Fortsetzung von Make Love.*, das ich bereits bei den Büchern für Jugendliche ab 14 Jahren vorgestellt habe. Übrigens ist auch Make Love.* absolut geeignet für Erwachsene, die sich mit dem sehr breiten Feld der Sexuelle Bildung befassen möchten.
Make More Love. ist laut Ann-Marlene Henning für Personen ab Mitte 40 gedacht. Dieses Buch fokussiert sich nämlich auf das Alter, ab dem ein neuerlicher körperlicher Umbruch beginnt – wobei natürlich erwähnt wird, dass dieser Umbruch, also der Beginn der Wechseljahre, bei jeder Person zu einem anderen Zeitpunkt beginnt.
Anfangs erklärt Henning sehr lange, wieso Sexualität und Alter so wichtige Themen sind, was sich im Alter verändern kann und welchen Einfluss diese Veränderungen auf die Sexualität haben kann. Mir persönlich sind ihre Ausführungen über die wie sie es nennt „altersbedingen Ausfallerscheinungen“ ein wenig zu lang, aber das könnte auch daran liegen, dass ich noch nicht zur Zielgruppe des Buches zähle. 😉
Allgemein hat das Buch sehr viel Text. Dieser wird immer wieder durch interessante und manchmal humorvolle Grafiken aufgelockert. Manche Grafiken werden allerdings nie oder erst viel später erklärt, was verwirrend sein kann.
Wie auch im Aufklärungsbuch für Jugendliche lockern Fotos von Paaren bei sexuellen Handlungen das Buch auf. Schade finde ich jedoch, dass nur eines der Paare homosexuelle Handlungen zeigt und die Personen wenig divers aussehen. Außerdem finde ich, dass die Bilder in Make More Love. weit bedeckter gehalten sind als in Make Love.
Schade und wirklich nicht nachvollziehbar finde ich den Absatz im Vorwort, in dem sie erklärt, dass sie in diesem Buch keine gendergerechte Sprache verwendet – wegen der Leserlichkeit und so…
Das finde ich vollkommen veraltet. Egal, wie oft sie betont, dass mit er und sie alle Menschen gemeint sind… Überhaupt ist das Buch vollkommen binär und großteils heteronormativ. Ab und zu wird zwar Homosexualität erwähnt, aber hauptsächlich schreibt sie von heterosexuellen Paarbeziehungen.
Henning befasst sich in diesem Buch auch mit der Anatomie der Geschlechtsorgane, allerdings nicht wie in Aufklärungsbüchern für Kinder und Jugendliche, sondern anhand von geschichtlichen Fakten. In diese verpackt sie das ganze Basiswissen der menschlichen Geschlechtsanatomie. Dadurch fühlen sich Leser*innen, die womöglich noch nicht alles über die Anatomie wussten, nicht bloßgestellt. Außerdem schreibt sie von Geschlechtslippen und erklärt auch sehr gut, wieso sie nicht von Schamlippen schreibt.
Auch der Beckenboden als ein zentraler „Sexmuskel“ wird oftmals erwähnt, was mich als Beckenbodentrainerin sehr freut. Ihre Erklärungen dazu sind sehr gelungen, auch wenn ich persönlich die Übungsanleitungen zur Beckenbodenwahrnehmung weiter vorne im Buch hingegeben hätte. Eine Grafik des Beckenbodens hätte sicherlich für mehr Verständnis gesorgt. Auch bei der Erklärung der Prostata wäre das sicherlich sinnvoll gewesen. In Bezug auf die Prostata wäre überhaupt mehr Inhalt wichtig gewesen. Hier fehlt mir das Thema Inkontinenz bei Prostataentfernung, was in einem solchen Buch nicht fehlen sollte.
Zwischendurch gibt es immer wieder Alltagstipps, beispielsweise was getan werden kann, wenn eine Person erektile Dysfunktion hat, wie die Klitoris gerne angefasst wird und was bei vaginaler Trockenheit getan werden kann. Sie stellt auch Hilfsmittel aus der Sextoybranche vor, auch wenn sie dem ständigen Einsatz von Vibratoren gegenüber ebenso skeptisch ist wie ich, weil dieser einen großen Einfluss auf die körperliche Wahrnehmung haben.
Es gibt sowohl ein Kapitel über weibliche* wie auch über männliche* Sexualität. Außerdem geht Henning auf das Thema Paarbeziehung, Verführung und Kommunikation ein.
Ihre Ansichten über feminines und maskulines Rollenverhalten und eine vermeintliche geschlechtsspezifische Gehirnentwicklung teile ich überhaupt nicht. Mit ihren Ausführungen über „überkritische weibliche Wesen“, die ihre „weiche, verletzliche Seite“ zeigen sollen und „starke Männer“ kann ich absolut nichts anfangen und finde ich höchst fragwürdig. In Zeiten, in denen wir über toxische Männlichkeit und deren Auswirkung auf die Gesellschaft diskutieren, finde ich, dass sie diese mit solchen Ansätzen verstärkt.
Abseits dieser Kritik befasst sich Ann-Marlene Henning in diesem Buch mit wichtigen und oft tabuisierten Themen. Umso wichtiger fand ich das letzte Kapitel zum Thema „Sexualität und Heimunterbringung“. Sie befasst sich mit diesem meist ignorierten Thema an dieser Stelle nicht, weil sie davon ausgeht, dass ihr Buch von so vielen Menschen in Heimen gelesen wird, sondern weil sie damit die Kinder jener Heimbewohner*innen erreicht, die mit diesem Thema oftmals überfordert sind und allein gelassen werden.
Trotz mancher Kritik an diesem Buch, die sich vor allem auf die Ansichten von Gender und Genderrollen beziehen, finde ich Make More Love. sehr spannend und empfehlenswert für Erwachsene.
Ann-Marlene Henning arbeitet in ihrer Praxis als Sexualberaterin nach dem Konzept Sexocorporel, das einen körperfokussierten Ansatz darstellt. Ich arbeite auch nach diesem Konzept, weshalb ich das Buch trotz mancher Schwachstellen sehr ansprechend finde. Sexocorporel wird in diesem Buch sehr verständlich und umfassend erklärt. So beschreibt sie, wie die menschliche sexuelle Entwicklung verläuft und geht näher darauf ein, wieso Sexualität kein Trieb ist, erklärt die verschiedenen Gesetzmäßigkeiten des Körpers und die unterschiedlichen Erregungsmodi des Körpers.
Im Praxisteil gibt es einige spannende Übungen. Die Übungen gehen allerdings sehr schnell zur Sache, was manchen Lesenden durchaus zu schnell sein könnte. Ich finde die Übung wunderbar, glaube aber, dass das für viele ein zu abrupter Einstieg in die Welt der Sexualberatung sein kann. Für andere können sie aber eine enorme Bereicherung sein!
Wer nicht sofort Übungen mit Selbsterkundung der Genitalien machen möchte, findet bald einen weiteren Buchtipp im Blog, der etwas offener und sensibler vorgeht.
Apropos andere Bücher…
Neben Make Love.* sind auch Brochmann, Nina/Stokken Dahl, Ellen: Viva La Vagina.* und Stömer, Luisa/Wünsch, Eva: Ebbe und Blut. Alles über die Gezeiten des weiblichen Zyklus.* für Erwachsene sehr empfehlenswert. Hier finden Sie meine Gedanken zu diesen Büchern.
Viel Spaß beim Schmökern und Ausprobieren!
*Das ist ein Affiliate Link. Durch das Klicken werden Sie direkt zum Onlineshop von Thalia weitergeleitet und bei Kauf des Buches erhalte ich eine kleine Vergütung. Für Sie ändert sich aber nichts! Ich werbe ausschließlich für Produkte, die ich selbst getestet habe und von denen ich überzeugt bin.
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2 Replies to “Aufklärungsbücher für Erwachsene… Wer braucht das schon?”